Beatrix Kramlovsky

Kramlovsky beschreibt konsequent die Realität und kratzt so lange an der Oberfläche, bis nur nackte Haut übrig bleibt.

Zdenka Becker

Das Mädchen wurde Karin genannt, ein Kind, das wenig störte, früh sauber wurde, selten schrie und auch beim Singen später die Stimme nur erhob, wenn man sie dazu aufforderte.

Karin wurde mit einem großen dunklen Mal auf ihrer linken Stirnhälfte geboren. Ihre Mutter erschrak ein wenig, würde es ein Mädchen später nicht verunstalten und ihre Chancen auf Glück mindern? Der Arzt lächelte bloß und versprach, noch vor dem ersten Geburtstag des Kindes alles vereist und entfernt zu haben. Das geschah und seitdem trug Karin eine flache runde Narbe. Wann immer sie in der Sonne war, verfärbte sich der Fleck erdbeerrot. Im Alter blieb er fast weiß und völlig faltenfrei. Sie nannte ihn ihr Kainsmal, was die Familie als Witz verstand, denn ein friedlicherer Charakter war kaum vorstellbar.
Sie liebte Geschichten und kaum konnte sie lesen, war sie der Bücherwelt verfallen. Im Park mit den anderen Kindern spielte sie nach, was sie gelesen hatte, oft zum großen und bewundernden Vergnügen der anderen, die nicht verstanden, dass ihre Phantasie sich aus reichhaltigen Quellen bediente. Vater und Mutter sahen Karins Leseleidenschaft gern, erleichterte es doch die Elternschaft in vielerlei Hinsicht.
Nach der Matura ging Karin nach England, arbeitete dort zwei Jahre als Kindermädchen, wechselte nach Frankreich als au pair und zog dann in die Poebene, um ihr Italienisch zu verbessern. Bücher begleiteten sie nun aus vielen Ländern. Sprachen fielen ihr leicht. Sie empfand die verwandten Strukturen als vertraut, spielerisch tauchte sie in den fremden Wortschatz, erkannte syntaktische Eigenheiten binnen kürzester Zeit. Was für eine Verschwendung, dachte ihre Mutter, die eine akademische Zukunft erwartet hatte und über ihrer Enttäuschung mit Bitterkeit brütete.
Karins Sprachgewandtheit ließ sich im Job für einen italienischen Konzern zu Geld machen. Sie war beliebt, weil sie ohne Dünkel und Ehrgeiz agierte. Was sie für ihre Arbeit brauchte, lernte sie schnell. Sie hatte bald den Ruf absoluter Zuverlässigkeit und dass sie prinzipiell keine Überstunden machte, egal, was man ihr bot oder womit man ihr drohte. Sie lächelte freundlich und pochte auf ihre gewerkschaftlichen Rechte. Und sie las. In ihrer Tasche war immer ein Buch; wenn andere zwischen Besprechungen auf den Gängen tratschend beisammen standen, trank sie ihren Espresso lesend. Sie kannte alle großen Bibliotheken Mailands und war angeblich schon eingeladen gewesen, in einigen privaten Sammlungen zu blättern, was die Kollegen geradezu irritierte. Wie war es dieser Ausländerin mit Kindermädchenausbildung gelungen, Zutritt zu elitären Zirkeln zu bekommen! Dass Karin, seit sie lesen konnte, besessen las und seit Jahren den Austausch mit anderen Abhängigen ihrer Sucht suchte, eine Entdeckerin spezieller Maßlosigkeit, blieb ihnen verborgen.
Auf Flirts ließ sie sich nur bis zu einem gewissen Punkt ein. Eine Kollegin verriet ihr einmal, dass Wetten liefen, ob und wann sie dem Drängen gewisser, diesbezüglich erfolgreich wildernder Herren nachgeben würde. Karin fand das kindisch und sprach manche der Männer direkt an. Was sie ihnen genau sagte, bekam niemand heraus. Aber die Avancen hörten auf. Zeitgleich wurde sie befördert. Ein Jahr später wurde sie von einem französischen Konzern abgeworben. „Ich dachte immer“, sagte ihr direkter Chef, der mit ihr manchmal ins Theater gegangen war, „sie wäre wie eine besondere exotische Blume, die nur unter bestimmten Umständen erblüht. Aber in Wirklichkeit ist sie wie eine Zypresse, die jetzt erst beginnt, ihre wahre Gestalt anzunehmen. Sie wird ein Urwaldriese, ein Mammutbaum.“
Karin gefiel diese Einschätzung. Als sie es ihrer Mutter am Telefon erzählte, verstand diese nicht, was daran schmeichelhaft sein sollte. Ob sie den anderen den Zugang zum Licht nähme, ob ihr Schatten ein Problem darstellte. Karin wechselte das Thema und meldete sich längere Zeit wieder nicht.
Mit 37 Jahren heiratete sie und feierte in kleinem Freundeskreis. Bertrand hielt eine Rede, in der er Karins überwältigenden ersten Eindruck auf ihn wie ein farbenprächtiges Gemälde von Delacroix beschrieb. Die Freunde hatten viel zu lachen und Karin versteckte ihre Überraschung, von diesem so lieben Mann auf diese Art wahrgenommen worden zu sein. Die Ehe entwickelte sich zu einer Bühne für lebhafte Diskussionen, Dialoge über Weltthemen und Kocherlebnisse, kurzweilige Vorträge Karins über Bücher, die Bertrand mit Schilderungen seiner erwanderten Lieblingsstrecken beantwortete. Das Bühnenbild erinnerte an eine Bibliotheksecke mit gemütlichem Sofa. Aber Bertrand verglich seine Ehe lieber mit einem ruhigen Waldteich, von moosigen Steinen und gewaltigen Bäumen umgeben, kühl im Sommer, selbst wenn die hochstehende Sonne sich in der Mitte des grünen Wassers grell glitzernd spiegelte. Ein Ort der Erholung, sagte er und Karin liebte ihn auch dafür.
Sie las weiterhin viel und das System ihrer Auswahl schien von purer Neugier geleitet zu sein. Irgendwann, da war sie bereits über 50, kündigte sie in beiderseitigem Einverständnis ihren gut dotierten Job und begann mit einem Tagebuch, der Lektüre gewidmet und das ihre Art der Reflexion wurde, die Welt wieder und wieder zu entdecken. Sie traf immer noch engste Freunde aus aller Welt, sie unterhielt einen intensiven Mailverkehr mit Lesenden aus unterschiedlichen Kulturen, sie wanderte manchmal mit Bertrand und ihnen verflog die gemeinsame Zeit wie im Flug, bevor sie wieder in ihren sich nicht überschneidenden Lebensräumen verschwanden.
Die Jahre vergingen, ihre Haare wurden weiß, ihre Rücken krümmten sich ein wenig. Bertrand ging in Pension und half bei einem sozialen Gartenprojekt mit. Karin vermachte in weiser Vorausschau ihre mittlerweile 36.000 Bände umfassende Sammlung der Stadt. Eine Universität interessierte sich für ihre festgehaltenen Überlegungen, den in vier Sprachen mit Schreibenden und Literatur Besessenen weltweit geführten Mailverkehr. Karin stiftete ein großzügiges Stipendium.
Als sie überraschend starb, wurde Bertrand erst klar, für wie viele Menschen seine Frau eine Rolle gespielt hatte, in wie vielen ihm unbekannten Leben sie aufgetaucht und entscheidende Momente geprägt hatte. Als hätte sie in ihrem gemeinsamen Haus mit den schlichten Zubauten und Galerien, die ihre Bücher bargen und den Garten in Pflanzeninseln zerschnitten, geheime Türen und Zugänge in weit entfernte, fremde Räume gehabt; Lebenslange Kontaktpflege und Brückenbauten aus geschriebenen Wörtern. Er hatte keine Ahnung, wie er ohne sie weiterleben sollte.
Bevor der Sarg geschlossen wurde, saß er noch lange bei ihr, betrachtete sie, wie er sie jahrelang während ihrer vielen Gespräche betrachtet hatte, strich über die glatte Stelle auf ihrer Stirn, die an ihr Geburtsmal erinnerte, legte ihr das letzte Buch, das sie gerade gelesen hatte, zwischen die Hände. Dabei verrutschte ein Stück Papier, offensichtlich ein Lesezeichen. Er schlug das Buch, einen Roman aus dem asiatischen Raum, auf. Da lag ein Foto, das ihn als jüngeren Mann zeigte, an einer Ecke schon leicht beschädigt. Auf der Rückseite stand in seiner schrägen Schrift mit den für ihn charakteristischen geschwungenen Schlaufen und Unterlängen: für dich, ganz zu eigen. Wie vermessen, dachte er, das konnte ich damals doch noch gar nicht wissen.
Er überlegte, dass er sich wohl immer an zweiter Stelle, nach ihren Büchern kommend, betrachtet hatte. Figuren schienen ihr wichtiger als lebende Körper um sie herum gewesen zu sein. Und seine eigene Geschichte mit ihr wäre nichts als die Fußnote einer Sammelleidenschaft. Sie hatten nie über Liebe gesprochen, über ihre spezielle Liebe. Nie. Und doch, dachte Bertrand nun, und doch war es nichts anderes gewesen, vom ersten Tag an.

 

Veröffentlicht in LEBENSLANG, Podium 189/190, November 2018